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Soziologische Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit

Nadine Reibling

(letzte Aktualisierung am 22.07.2025)

Zitierhinweis: Reibling, N. (2025). Soziologische Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit. In: Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BIOEG:Q4-I116-4.0

Zusammenfassung

Die Medizin- und Gesundheitssoziologie leistet einen zentralen Beitrag zur gesundheitswissenschaftlichen Forschung, indem sie soziologische Theorien und Konzepte auf Gesundheit und Krankheit anwendet und damit deren Verständnis maßgeblich prägt. Sowohl klassische soziologische Theoriekonzepte als auch neuere Ansätze sind im interdisziplinären Forschungsdiskurs bekannt und forschungsleitend. Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Grundannahme, dass wir Gesundheit und Krankheit nicht allein als objektive, biologische Tatsachen begreifen können. Die soziologische Perspektive hebt stattdessen hervor, wie Gesundheit und Krankheit von sozialen Faktoren beeinflusst, in sozialen Interaktionen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen konstruiert und innerhalb komplexer Organisationen bearbeitet werden.

Schlagworte

Soziologie, Gesundheit, Krankheit, Theorie, Gesundheitliche Ungleichheit


Die Soziologische Perspektive

Was ist das Besondere an der soziologischen Perspektive auf Gesundheit und Krankheit? Die Soziologie ist die Wissenschaft, die soziales Handeln, soziale Tatbestände und Gesellschaft als Ganzes verstehen und erklären möchte. Ihr Blick liegt auf dem Sozialen als Ursache, Kontext und Folge von Gesundheit und Krankheit. Die Bedeutung des Sozialen für Gesundheit, wie sie unter anderem durch Emile Durkheims Analyse des Selbstmords bereits Ende des 19. Jahrhunderts begründet wurde (Durkheim, 1897), war eine zentrale, umwälzende Idee, die das noch bis in die 1970-er Jahre vorherrschende biomedizinische Krankheitsmodell (Biomedizinische Perspektive) in Frage stellte. Heute ist die Erkenntnis, dass Soziales auf Gesundheit wirkt, so weit verbreitet, dass sie nicht mehr als genuin soziologisch wahrgenommen wird. Sie ist zu einer von allen  Gesundheitswissenschaften/Public Health akzeptierten Tatsache geworden (Pescosolido, 2011). Der soziologische Beitrag zur Gesundheitsforschung geht aber über die thematische Ausrichtung auf das Soziale weit hinaus.

  • Die Medizin- und Gesundheitssoziologie bringt allgemeine soziologische Theorien und Konzeptein den interdisziplinären Forschungsdiskurs ein und zeigt, wie diese helfen können, Gesundheit und Krankheit zu verstehen und zu erklären. Dieser theoriegeleitete Zugang ist es, der soziologische Forschung von anderen Disziplinen zum gleichen Forschungsgegenstand häufig unterscheidet (Cockerham & Scambler, 2021).
  • Darüber hinaus bringt die wachsende Zahl von Soziologinnen und Soziologen, die zum Thema Gesundheit forschen, qualitative und quantitative Methodenkompetenzen sowie eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher Datenquellen ein, die auch die empirische Untersuchung des Sozialen an Gesundheit und Krankheit erweitert hat (Müters & Lampert, 2017).

In der Bundesrepublik Deutschland hat sich (wie auch in anderen Ländern) zwischen den 1950-er bis 1980-er Jahren zunächst die Medizinsoziologie entwickelt mit einem starken Fokus auf Forschungsfragen mit Bezug zur professionellen Krankenbehandlung und den dafür spezialisierten Akteurinnen und Akteuren sowie Institutionen (Gerlinger, 2023). In den 1970-er Jahren hat sich die Medizinsoziologie als eigenes Fach an den medizinischen Fakultäten etabliert und entwickelte dort Lehr- und Forschungsaktivitäten mit eigenem theoretischen und konzeptionellen Theorierepertoire (Siegrist, 2022). Sie wird seit 1972 fachpolitisch vertreten durch die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) (Siegrist, 2022). Im gleichen Zeitraum hat sich auch an sozialwissenschaftlichen Fachbereichen die Forschung zu Medizin und ab den 1990-er Jahren insbesondere zu Gesundheit intensiviert. Die neuere als Gesundheitssoziologie bezeichnete Richtung bringt theoretische Perspektiven aus anderen Bindestrichsoziologien in die Gesundheitsforschung ein (Arbeitssoziologie, Ungleichheitssoziologie, Geschlechterforschung, Organisationssoziologie etc.) (Kriwy & Jungbauer-Gans, 2020). Seit 1975 vertritt die Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) die an den sozialwissenschaftlichen Fakultäten vertretene Forschung und Lehre innerhalb der Kerndisziplin und nach außen (Reibling et al., 2022). Darüber hinaus hat die Medizin- und Gesundheitssoziologie einen wichtigen Platz in den zunehmend ausgebauten gesundheitswissenschaftlichen Fachbereichen an Universitäten und Hochschulen sowie an externen Forschungsinstituten (Gerlinger, 2023).

Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit ist demnach in unterschiedlichen organisationalen und (inter-)disziplinären Kontexten verortet. Dies hat zur Ausdifferenzierung von Forschungsgegenständen beigetragen: Während Soziologinnen und Soziologen an den medizinischen Fakultäten die Relevanz der Medizinsoziologie für die Medizin und die Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern herausarbeiten, sind Soziologinnen und Soziologen an sozialwissenschaftlichen Fakultäten mit der Verankerung ihres Forschungsfeldes innerhalb der Soziologie sowie mit der Anbindung an andere spezielle Soziologien befasst. An gesundheitswissenschaftlichen Fakultäten wiederum entwickeln Soziologinnen und Soziologien die Soziologie als Bezugswissenschaft für Public Health und für die Ausbildung von Gesundheitsberufen weiter. Über die Zeit hinweg entstand ein enger Austausch – sowohl innerhalb dieser Gruppen als auch mit den anderen Disziplinen, die sich mit den sozialen Dimensionen von Gesundheit und Krankheit beschäftigen (Gerlinger, 2023).

Die Medizin- und Gesundheitssoziologie betont insbesondere, dass das Verständnis der sozialen Bezüge von Gesundheit und Krankheit mehr bedeutet, als einen empirischen Zusammenhang zwischen sozialen Indikatoren und Gesundheit festzustellen. Es braucht soziologische Theorien, die Gesundheit auf der Mikroebene mit gesellschaftlichen Strukturen auf der Makroebene verknüpfen können. Außerdem ist ein methodologisches Instrumentarium erforderlich, das die Komplexität und Dynamik des Sozialen angemessen erfassen kann.

Forschungsgegenstände

Für Richter und Hurrelmann (2023, S. 11) „umfasst die Soziologie von Gesundheit und Krankheit eine große Bandbreite an Themen und Zugängen: Von der Analyse medizinischen Wissens über die Laienperspektive auf Gesundheit, die Erfahrung und Interpretation von Krankheit, soziale und kulturelle Aspekte des Körpers bis hin zur Analyse der Arzt-Patienten-Interaktion, die sozialen, ökonomischen und politischen Determinanten von Gesundheit und Krankheit sowie die soziale Organisation der Gesundheitsversorgung (Barry und Yuill 2012; Nettleton 2020). Sie bietet darüber hinaus eine umfassende, kritisch-analytische Sichtweise und einen eigenständigen Erklärungsansatz gesundheitsrelevanter Prozesse.“

Die Vielzahl dieser Forschungsgegenstände können anhand dreier Dimensionen geordnet werden (siehe Tabelle 1; Determinanten von Gesundheit)

DimensionenLeitfragen
Die soziale Produktion von Gesundheit und Krankheit 
  • Untersuchung von sozialen Mustern in der Verteilung von Gesundheit und Krankheit (z. B. sozialer Gesundheitsgradient).
  • Suche nach sozialen und nicht-biologischen oder psychologischen Erklärungen für diese Muster (z. B. „Rolle der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Entstehung, Bewältigung und Versorgung von Krankheiten“ (Richter & Hurrelmann, 2023, S. 13).
 
Die soziale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit 
  • Untersuchung dessen, was als Gesundheit und Krankheit gilt und wie es zwischen Kulturen und über die Zeit variiert (z. B. Medikalisierung sozialer Phänomene).
  • Reflexion von Kultur, Politik und moralischen Vorstellungen einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit durch die herrschende/n Definition/en von Gesundheit und Krankheit.
 
Die soziale Organisation von Gesundheit und Krankheit 
  • Untersuchung, wie eine bestimmte Gesellschaft ihre gesundheitliche Versorgung organisiert, finanziert und in Anspruch nimmt (z. B. Bedeutung von kurativer Medizin im Vergleich zu Public Health).
  • Analyse von Gesundheitsprofessionen und -berufen.
  • Empfehlungen zur Steuerung der Versorgung.
 

Tab. 1: Dimensionen und zentrale Forschungsgegenstände der Medizin- und Gesundheitssoziologie (eigene Darstellung nach Richter & Hurrelmann, 2023, S. 11 ff.)

 

In der Soziologie gibt es eine Vielzahl von Theorien, deren Popularität sich über die Zeit hinweg gewandelt hat. Im folgenden Teil des Leitbegriffs werden diese Theorieansätze kurz dargestellt. Aufgrund der Vielzahl der Ansätze, auf die hier nur kurz eingegangen werden kann, wird auf den Verweis auf Originalquellen zu den Ansätzen weitgehend verzichtet. Stattdessen erfolgt die Darstellung auf der Basis von vorhandenen Überblicksbeiträgen zu den einzelnen Theorieansätzen, die den Leserinnen und Lesern als weiterführende Lektüre empfohlen ist.

Klassische Theorieansätze

Zunächst werden hier die klassischen Theorieansätze dargestellt, deren Ursprünge im 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts liegen. Tabelle 2 gibt einen vergleichenden Überblick, wie Krankheit und Gesundheit von der jeweiligen Theorierichtung verstanden werden.

Soziologische Theorie(n)

Zentrale Vertreter

Grundkonzept

StrukturfunktionalismusParsons

Krankheit als Störung der Rollenerfüllung, Konstrukt der Krankenrolle zur funktionalen Sicherung von Rollenkonformität.

Symbolischer InteraktionismusStrauss, Goffman, Scheff

Krankheit und Gesundheit werden über Handeln und soziale Interaktionsprozesse etabliert, reproduziert und zugeschrieben (Labeling).

KonflikttheorienMarx, Weber

Gesundheit und Krankheit als Folge von sozialen Herrschaftsbeziehungen (Ausbeutung, Unterdrückung).

SozialkonstruktivismusBerger & Luckmann, Foucault

Gesundheit und Krankheit als soziale und kulturelle Interpretationen von biologischen Prozessen.

Feminismus/GeschlechtertheorienDe Beauvoir, Butler, West & ZimmermanGesundheit und Krankheit als Folge und Ausdruck des Geschlechts.

Tab. 2: Klassische soziologische Theorieansätze in der Medizin- und Gesundheitssoziologie (eigene Darstellung)

Strukturfunktionalismus

Der Strukturfunktionalismus war in den 1950-er Jahren die dominante Gesellschaftstheorie der Soziologie. Er betrachtet Gesundheit aus einer funktionalen Perspektive: Gesundheit ist ein Erfordernis für Individuen, um mit den Leistungsanforderungen der Strukturen wie der Arbeitswelt zurechtzukommen. Da jeder Mensch im Rahmen verbindlicher Rollenerwartungen funktionale Beiträge zu den Zielen von sozialen Systemen und zur Aufrechterhaltung ihrer Strukturen erbringen muss, ist Gesundheit auch für die Gesellschaft insgesamt bedeutsam. Krankheit wird daher als eine generalisierte Störung der Leistungsfähigkeit der Person für die von ihr normalerweise zu erwartenden Erfüllung von Aufgaben angesehen und als abweichendes Verhalten gewertet.

Krankheit kann demnach nur in einer neuen gesellschaftlichen Rolle geduldet und bewältigt werden: der Krankenrolle. Sie ist transitorisch angelegt: Der Patient bzw. die Patientin sind nur zeitweise von seinen bzw. ihren normalen Rollenverpflichtungen befreit und werden für die Krankheit nicht moralisch verantwortlich gemacht. Sie haben aber gleichzeitig die Verpflichtung, gesund werden zu wollen und dazu fachkundige (ärztliche) Hilfe aufzusuchen und ihren Anweisungen Folge zu leisten. Auf ärztlicher Seite bestehen komplementäre Rollenverpflichtungen: Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet zu affektiver Neutralität. Ihr Handeln soll frei vom Einfluss persönlicher Gefühle bleiben; das medizinische Fachpersonal muss außerdem fachlich kompetent sein, um vertrauensbildend sein zu können. Die Medizin hat damit die Funktion, das abweichende Verhalten zu legitimieren und übt zugleich soziale Kontrolle aus, damit Verhaltenskonformität wiederhergestellt werden kann.

Auch wenn Parsons theoretische Auseinandersetzung mit der Medizin wesentlich für die Entwicklung der Medizinsoziologie waren, wird sein Konzept der Arzt-Patienten-Beziehung heute eher kritisch betrachtet. Ein wesentlicher Kritikpunkt liegt darin, dass die Krankenrolle quasi universell ist und damit weder Unterschiede zwischen Krankheiten noch nach dem sozioökonomischen oder -kulturellen Hintergrund der Patientinnen und Patienten berücksichtigt. Auch die Vorstellung des Strukturfunktionalismus von einer harmonischen Gesellschaft, die wie eine Maschine funktioniert, wird als problematisch angesehen, da auf diese Weise Konflikte und gesellschaftliche Dynamiken weitgehend ausblendet werden (Cockerham & Scambler, 2021).

Neben dieser grundlegenden Kritik wird die Krankenrolle zumeist nicht mehr als zeitgemäß betrachtet. Insbesondere lässt sich der Wandel im Krankheitsspektrums hin zu chronischen Krankheiten nur schwer mit dem Modell von Parsons vereinbaren, da bei diesen Krankheiten eine vollständige Heilung bzw. Herstellung der Funktionsfähigkeit oft nicht möglich ist. Auch das hierarchische Verhältnis zwischen Ärztin bzw. Arzt und Patientin oder Patient widerspricht dem heutigen Ideal einer partnerschaftlichen Beziehung und informierten Entscheidungsfindung. Schließlich verliert auch die in der Krankenrolle angelegte Entlastung von persönlicher Verantwortung an Bedeutung: Im Rahmen des präventivmedizinischen Risikofaktorenmodell (Risikofaktoren und Risikofaktorenmodell) werden zunehmend individuelle Verhaltensweisen wie Übergewicht betont, wodurch Personen stärker für ihren Gesundheitszustand verantwortlich gemacht werden.

Symbolischer Interaktionismus

In den 1960-er Jahren entwickelte sich der symbolische Interaktionismus als erste große Handlungstheorie. Er löste sich von der Vorstellung des Strukturfunktionalismus, dass Krankheit in einer vordefinierten Rolle fixiert sei. Stattdessen geht er davon aus, dass Krankheit erst durch Handeln und soziale Interaktion konstituiert wird. Der Fokus liegt also auf den Prozessen, in denen Personen eine Krankheit zugeschrieben wird bzw. sich selbst zuschreiben (Cockerham & Scambler, 2021).

Diese eng an ein qualitatives Forschungsparadigma geknüpfte Theorie interessiert sich nicht für die Funktion von Gesundheit und Krankheit, sondern für die subjektiv und sozial zugeschriebene Bedeutung: Wie wird Krankheit wahrgenommen, erlebt und in Handlung und sozialer Interaktion gelebt? In vielen empirischen Studien wurde so gezeigt, dass Gesundheit und Krankheit bei jedem Individuum höchst unterschiedlich aussehen können und auch im Zeitverlauf unterschiedlich wahrgenommen werden (Charmaz & Belgrave, 2013). Dabei haben sich Arbeiten in diesem Theoriekanon insbesondere mit Krankheiten auseinandergesetzt, die nicht gut mit der Parsonschen Idee der Krankenrolle vereinbar sind wie chronische Krankheiten, psychische Erkrankungen und Behinderungen. Ein wichtiger Befund war die Existenz und Verhandlung konfligierender Wahrnehmungen und Definitionen von Krankheit, z. B. zwischen Patienten bzw. Patientinnen und Ärzten bzw. Ärztinnen oder Angehörigen.

Der symbolische Interaktionismus hat insbesondere den Anspruch, die Kranken und ihre Erfahrungen und Handlungen in den Blick zu nehmen. Diese Perspektive macht deutlich, dass die Frage, ob jemand krank ist, weder vollständig von biologischen (z. B. körperlichen Veränderungen) noch von gesellschaftlichen Faktoren (z. B. Diagnosemanualen) determiniert wird. Personen können in einem gesetzten Rahmen wählen, ob und wie sie Krankheit wahrnehmen, fühlen und leben (Charmaz & Belgrave, 2013). Darüber hinaus hat der symbolische Interaktionismus die Bedeutung des Krankseins im Alltag näher beleuchtet und gezeigt, wieviel Arbeit insbesondere chronisch kranke Menschen und ihre Angehörigen leisten müssen, um ihren Alltag zu bewältigen (Corbin & Strauss, 1993).

Eine in den 1960-er und 1970-er Jahren einflussreiche Variante ist die Labeling-Theorie, die später auch in den Sozialkonstruktivismus Eingang fand. Ähnlich wie der Strukturfunktionalismus versteht die Labeling-Theorie Krankheit als abweichendes Verhalten. Anders als dieser geht sie jedoch davon aus, dass die Abweichung nicht aus dem Symptom oder Verhalten selbst resultiert, sondern erst durch die soziale Zuschreibung – das Labeling – zur Krankheit wird (Cockerham & Scambler, 2021). Der Ansatz nimmt an, dass Menschen mit einem Krankheitslabel zumeist ihr Verhalten und langfristig auch ihre Identität an die mit dem Etikett verbundenen Stereotype und Verhaltenserwartungen anpassen. Das zunächst von offiziellen Instanzen sozialer Kontrolle aufgelegte Fremdbild wird so häufig zum Selbstbild: Es entsteht eine Identität, die von der gesellschaftlichen Normalitätserwartung abweicht.

Konflikttheorien

Konflikttheoretische Ansätze gehen davon aus, dass eine Gesellschaft aus sozialen Gruppen besteht, die in einem Konflikt um Macht und Ressourcen stehen (Cockerham & Scambler, 2021). Das Ergebnis dieses Konfliktes ist Ungleichheit und erhöhte Krankheitsbelastung für die unterlegenen Gruppen. Ihren Ursprung haben diese Theorien in den Arbeiten von Karl Marx und Max Weber. Während der Strukturfunktionalismus davon ausgeht, dass soziale Systeme durch geteilte Normen und feste Rollenbeziehungen stabil sind, bedeutet Stabilität aus konflikttheoretischer Sicht, dass es einer Gruppe (Elite) gelungen ist, unterlegene Gruppen zu dominieren. Dabei unterscheiden sich Konflikttheorien in den Ausprägungen dieser Herrschaftsbeziehungen (Cockerham & Scambler, 2021). Während bei Marx die Grundlage ökonomisch ist (Ausbeutung), betont Weber Macht. Auch kulturelle Herrschaftsmechanismen beruhend auf Ideologien sind wichtig in den Konflikttheorien.

Dass Gesundheit und Krankheit in der Gesellschaft ungleich verteilt sind, ist heute ein weithin bekannter empirischer Befund. Dieser kann jedoch unterschiedlich interpretiert werden. Häufig werden Bildung, Einkommen und Berufsstatus als Eigenschaften der Individuen angesehen. Damit könnte die Gesundheit sozial benachteiligter Gruppen durch eine Verbesserung ihrer sozialen Lage erreicht werden, z. B. durch höhere Bildung oder mehr Einkommen. Aus konflikttheoretischer Sicht greift das zu kurz, denn hinter der Ungleichheit stehen soziale Beziehungen. Eine Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit erfordert daher auch makrostrukturelle Veränderungen z. B. durch Eingriffe in die Verteilung von Produktionsmitteln, politische Machtveränderungen und die Kritik bestehender Ideologien (Scambler & Scambler, 2013). Die Stärke von Konflikttheorien ist, dass sie die Verbindung von Institutionen und Strukturen der Makroebene mit Gesundheit und Krankheit auf individueller Ebene aufzeigen.

Da die Implikationen der Konflikttheorien stark politisch aufgeladen sind, hat ihre Popularität seit den 1980-er Jahren abgenommen. Diese Entwicklung wird immer wieder kritisch hinterfragt, u. a. von Gerlinger (2020, S. 13), der betont, dass die „Auswirkungen des aktuellen dynamischen Wandels in Ökonomie, Politik und Gesellschaft auf Gesundheit“ unzureichend berücksichtigt und übergreifende Gesellschaftstheorien in der Medizin- und Gesundheitssoziologie aktuell zu wenig Anwendung finden. Dabei, so Gerlinger, seien Gesundheit und Krankheit heute stark geprägt von einer Ausweitung der Markt- und Wettbewerbslogik im Arbeits- und Gesundheitssystem. Neue Steuerungsformen im Arbeitssystem führten zu Gesundheitsbelastungen etwa durch Flexibilisierung, Arbeitsverdichtung und Prekarisierung. Gleichzeitig werde das Gesundheitssystem zunehmend wettbewerbsorientiert: private Anbieter nähmen immer mehr Einfluss im Krankenhausbereich und in der Pflege. Dennoch gibt es auch neuere Ansätze (siehe z. B. Intersektionalität und Fundamental-Cause-Theorie), die sich als konflikttheoretisch verorten lassen.

Sozialkonstruktivismus

Die Grundannahme des Sozialkonstruktivismus besteht darin, dass soziale Phänomene nicht gegeben sind oder entdeckt, sondern aktiv konstruiert werden. Auch wenn Gesundheit und Krankheit eine biologische Basis haben (z. B. Veränderungen im Körper erfahr- oder messbar sind), ist die Frage, ob etwas als gesund oder krank angesehen wird, eine soziale Konstruktion. Sie basiert auf dem Handeln und den aktiven Entscheidungen von Akteurinnen und Akteuren in einem konkreten historischen, sozialen und kulturellen Kontext. Im Englischen kann diese Unterscheidung auch sprachlich gemacht werden zwischen disease (die biologische Veränderung) und illness (der sozialen Bedeutung dieser Veränderung) (Olafsdottir, 2013).

Während der symbolische Interaktionismus sich auf die Konstruktion von Krankheit in sozialen Interaktionen auf der Mikroebene konzentriert, geht es im Sozialkonstruktivismus um die Konstruktion von Wissen und Kategorien auf einer übergeordneten, gesellschaftlichen Ebene. Ein Beispiel ist die Medikalisierungstheorie, die gezeigt hat, wie unterschiedliche Akteurinnen und Akteure z.B. Betroffene und soziale Bewegungen aktiv daran arbeiten, dass soziale Phänomene ein Krankheitslabel erhalten (Conrad, 2007). Sie weist darauf hin, dass unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit das Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse ist, bei denen Interessen und Macht eine zentrale Rolle spielen, z. B. bei Entscheidungen über Diagnosemanuale oder in der Leitlinienentwicklung. Sind Krankheits- und Risikokategorien etabliert, werden sie meistens als objektive Tatsachen wahrgenommen.

Sozialkonstruktivistische Ansätze in der Medizin- und Gesundheitssoziologie werden häufig als einfache Medizinkritik missverstanden. Dabei geht es vielmehr darum, die Entstehungsprozesse und Wirkungen von Krankheitskategorien differenziert zu untersuchen, kritisch zu reflektieren und Alternativen denkbar zu machen (Reibling & Bleckmann, 2023).

Feminismus und Geschlechtertheorien

Der Feminismus untersucht die Bedeutung des Geschlechts zum Verständnis von sozialem Handeln und Gesellschaften (Annandale, 2013). Er wird auch als Konflikttheorie eingeordnet, da ihm die Vorstellung einer geschlechterbezogenen Herrschaftsbeziehung – dem Patriarchat – zu Grunde liegt. Eine wichtige konzeptionelle Unterscheidung des Feminismus war die zwischen sex – dem biologischen – und gender – dem sozialen Geschlecht, wobei diese heute häufig kritisch gesehen wird.

Eine geschlechterbezogene Betrachtung von Gesundheit und Krankheit ist weit verbreitet, u. a. grundlegend in der Gesundheitsberichterstattung. Diese zeigt, dass Männer und Frauen sich hinsichtlich ihrer Gesundheit relevant unterscheiden. Das gilt in Bezug auf Lebenserwartung, Todesursachen, Krankheiten und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Dabei spielen sowohl das biologische Geschlecht (z. B. tritt Brustkrebs vor allem bei Frauen auf) als auch das soziale Geschlecht (z.B. sind Männer und Frauen unterschiedlichen belastenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt) eine entscheidende Rolle. Das soziale Geschlecht beeinflusst Gesundheit unter anderem durch die Assoziation von Geschlecht mit bestimmten sozialen Rollen und Normen. Darüber hinaus sind gesundheitsbezogene Einstellungen und Lebensweisen/Lebensstile eine wichtige Komponente des von West und Zimmerman beschriebenen „doing gender“, d. h. der Art, wie über Verhalten Geschlecht ausgedrückt bzw. erst konstituiert wird. Dieser Aspekt wird insbesondere auch im Hinblick auf die Männergesundheit diskutiert, da viele Aspekte eines gesundheitsförderlichen Lebensstils mit den Normen hegemonialer Männlichkeit kollidieren (Annandale, 2013).

Der Beitrag feministischer und geschlechtertheoretischer Arbeiten liegt also darin zu zeigen, dass Gesundheit und Krankheit sowohl eine Folge bestehender Geschlechterunterschiede und -ungleichheiten als auch ein Ausdruck des eigenen Geschlechts darstellen.

Wie in der Doppelbezeichnung Feminismus und Geschlechtertheorien deutlich wird, gibt es in dieser Theorierichtung unterschiedliche Varianten.

  • Der liberale Feminismus, der u. a. auf Simone de Beauvoirs Arbeiten zurückgeht, strebt eine Gleichheit der Geschlechter an. Mögliche biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen sollen keine Rolle spielen und werden daher weitgehend ausgeblendet. Der liberale Feminismus und seine Gleichstellungsagenda ist heute in Institutionen und Organisationen etabliert und integriert. Da in der Gesundheitsforschung der Körper ein wichtiger Aspekt darstellt, ist der liberale Feminismus hier eher weniger verbreitet (Annandale, 2013).
  • Der Differenzfeminismus betont die Unterschiede zwischen Männern und Frauen und stellt insbesondere das Besondere am Frausein und damit frauenspezifische Themen in den Fokus. In der Gesundheitsforschung war der Differenzfeminismus in mehrfacher Hinsicht entscheidend. Erstens hat er spezifische Frauengesundheitsthemen wie Schwangerschaft, Abtreibung etc. in die Diskussion eingebracht und eine bessere, den Bedürfnissen und Rechten der Frauen entsprechende Versorgung (z. B. natürliche Geburt) eingefordert. Zweitens hat er auf die Medikalisierung des weiblichen Geschlechts (z. B. PMS, Menopause) hingewiesen, die unter anderem auf der am männlichen Normal ausgerichteten Medizin beruht (Annandale, 2013).
  • Der postmoderne Feminismus (Geschlechter- oder Queer-Theory), zu der Judith Butlers Arbeiten zählen, kritisiert den Fokus auf die binäre Geschlechtervorstellung (Mann/Frau) und die Heteronormativität älterer Geschlechtertheorien. Die Verwendung von Kategorien (auch in der Frauenbewegung oder zur Förderung von Minderheiten) reproduziere Geschlechter- und Machtunterschiede in gesellschaftlichen Diskursen (Annandale, 2013).

Neuere Theoriebeiträge

Die Theorielandschaft hat sich in der Medizin- und Gesundheitssoziologie seit den 1970-er Jahren immer weiter ausdifferenziert (Gerlinger, 2020; 2023). Neuere Theorien haben häufig einen geringeren Erklärungsanspruch und/oder beziehen sich auf ausgewählte Gegenstandsbereiche. Im Folgenden (Tabelle 3) werden einige neuere soziologische Theorieansätze dargestellt, die in der empirischen Medizin- und Gesundheitssoziologie häufig Anwendung finden.

Soziologische Theorie(n)

Zentrale Vertreter

Grundkonzept

Stress und soziale UnterstützungPearlin, Cobb

Gesundheit und Krankheiten sind das Ergebnis des Verhältnisses von Belastungen und Ressourcen.

LebensverlaufsperspektiveElder, Kuh & Ben-Shlomo

Gesundheit und Krankheit sind die Folge von Risiken und Ressourcen früherer Lebensphasen, insbesondere der frühen Kindheit.

IntersektionalitätCrenshaw, Collins

Gesundheit und Krankheit sind das Ergebnis mehrerer, verwobener Systeme der Unterdrückung (z. B. Patriarchat, Rassismus, Kapitalismus).

GesundheitssystemforschungField, Mechanic

Gesundheit und Krankheit sind beeinflusst durch Gesundheitsorganisationen und Strukturen des Gesundheitssystems.

Fundamental-Cause TheorieLink & PhelanAufgrund ihrer flexiblen Ressourcen verschaffen sich Personen mit einem höheren sozioökonomischen Status gesundheitliche Vorteile.

Tab. 3: Übersicht neuerer Theorieansätze in der Medizin- und Gesundheitssoziologie (eigene Darstellung)

Stress und soziale Beziehungen

Die Stresstheorie postuliert, dass viele Krankheitszustände das Ergebnis akuter und chronischer Stressprozesse sind. Stressreaktionen sind damit ein grundlegender Mechanismus bei der Entstehung von Krankheiten. Der Stressprozess ist dabei überaus komplex und abhängig von Belastungen, Bewertungen und Ressourcen (Pearlin et al., 1981). Stressbelastungen sind vor allem das Ergebnis struktureller Faktoren wie Arbeits- und Wohnbedingungen, die von der Politik adressiert werden können. Auch Diskriminierungserfahrungen, denen benachteiligte Personengruppen in der Gesellschaft stärker ausgesetzt sind, werden als ein bedeutsamer Auslöser für Stress untersucht (Thoits, 2010). Während psychologische Ansätze vor allem personale Ressourcen und Coping-Strategien fokussieren, betonen soziologische Ansätze stärker die Bedeutung sozialer Ressourcen. Soziale Beziehungen sind daher eines der zentralen Konzepte der psychosozialen Erklärungsansätze für Gesundheit.

In der aktuellen Forschung wird die Schutzwirkung des Sozialen über unterschiedliche theoretische Konzepte abgebildet: Soziale Netzwerke und  Soziales Kapital erfassen dabei die Verfügbarkeit von Ressourcen, die an sich schon protektiv wirken können. Darüber hinaus ist die konkret erhaltene soziale Unterstützung wesentlich für den Gesundheitszustand (Vonneilich & von dem Knesebeck, 2020).

Lebensverlaufsperspektive

Die Lebensverlaufsperspektive betont die Temporalität von Gesundheit und Krankheit über den Lebensverlauf. Die zentrale These ist, dass Gesundheit und Krankheit durch die Akkumulation von Risiken oder Ressourcen im Lebensverlauf entstehen. Das bedeutet, dass sich Situationen und Erfahrungen häufig erst mit großer zeitlicher Verzögerung in einem veränderten Gesundheitszustand zeigen (Cockerham & Scambler, 2021). Eine besondere Bedeutung hat hier die Phase der (frühen) Kindheit. Obwohl der allergrößte Teil der Kinder und Jugendlichen gesund ist, können die Risiken (z. B. Substanzkonsum der Eltern) und Ressourcen (z. B. sichere Bindung) aus der frühen Kindheit Gesundheit und Krankheit im mittleren und hohen Erwachsenenalter beeinflussen (Modell der kritischen Perioden) (Kuh & Ben-Shlomo, 1997).

Die Lebensverlaufsperspektive hat zur Erkenntnis beigetragen, dass eine Langzeitperspektive notwendig ist, wenn wir Gesundheit und Krankheit erklären wollen. Dies stellt nicht nur an die empirische Gesundheitsforschung erhöhte Anforderungen (z. B. Längsschnittdaten und -verfahren), sondern auch an die theoretische Entwicklung der temporalen Wirkmechanismen. Daher existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Theorien zur Erklärung von Gesundheitsverläufen innerhalb der Lebensverlaufsperspektive, wobei das Modell kumulativer Vor- bzw. Nachteile (cumulative advantage) besonders häufig angewandt wird (Engelhardt-Woelfler & Leopold, 2020).

Intersektionalität

Die Intersektionalitätstheorie hat ihren Ursprung in der Forschung Schwarzer Feministinnen in den USA, zu denen unter anderem Patricia Hill Collins und Kimberlé Crenshaw zählen, wobei auf Crenshaw der Begriff selbst zurückgeht. Sie argumentierten, dass die Erfahrungen und Benachteiligungen, die Frauen erleben, nicht universell sind, sondern sich noch einmal nach Hautfarbe, Klasse oder sexueller Orientierung unterscheiden (Annandale, 2013). Die Intersektionalitätstheorie ist im Grundansatz ebenfalls eine Konflikttheorie, die unterschiedliche Konfliktlinien miteinander verschränkt, d. h., dass bestimmte Formen von Benachteiligung erst durch die interaktive Betrachtung mehrerer Machtsysteme (Sexismus Rassismus, Klassismus) sichtbar werden. Die verschiedenen, möglichen intersektionalen Konstellationen theoretisch und empirisch zu fassen, ist ein aktives Feld soziologischer Gesundheitsforschung und spielt zunehmend auch in der Gesundheitsberichterstattung eine wichtige Rolle (Gencer et al., 2024).

Gesundheitssystemforschung

Das Gesundheitssystem beeinflusst zwar nur einen Teil der Bevölkerungsgesundheit, spielt jedoch für das Leben kranker und pflegebedürftiger Menschen eine zentrale Rolle. Die Gesundheitssystemforschung untersucht Organisationen im Gesundheitsbereich sowie die Struktur des Gesundheitssystem insgesamt. Internationale Vergleiche zeigen, dass Gesundheitssysteme sehr unterschiedlich funktionieren, ausgestattet sind und reguliert werden (Reibling & Wendt, 2020). Sowohl der institutionelle Aufbau als auch kulturelle Faktoren können die Versorgung, die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten und die gesundheitlichen Ergebnisse beeinflussen. So zeigen ländervergleichende Studien beispielsweise, dass ein Fokus auf ambulanter Primärversorgung mit besserer Bevölkerungsgesundheit und weniger sozialer Ungleichheit im Gesundheitszustand assoziiert ist (Kringos et al., 2013). Darüber hinaus spiegeln Systeme die Bedeutung bestimmter gesellschaftlicher Werte wie Universalität, Solidarität, Wahlmöglichkeiten etc. wider.

Fundamental-Cause-Theorie

Die Fundamental-Cause-Theorie erklärt, warum soziale Unterschiede im Gesundheitszustand über die Zeit hinweg bestehen bleiben, obwohl sich die dahinterliegenden Mechanismen verändern (z. B. Hygiene, Rauchen, Exposition gegen COVID-19). Die Grundannahme der Theorie ist, dass Personen mit einem höheren sozioökonomischen Status über flexible Ressourcen wie Wissen, Geld, Macht, Prestige und hilfreiche soziale Beziehungen verfügen, die ihnen helfen, Risiken zu vermeiden und ihre Gesundheit zu schützen, wenn neue Krankheiten entstehen oder sich Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten verändern (Link & Phelan, 1995). Dies zeigte sich zum Beispiel in der COVID-19-Pandemie, in der Ungleichheit erst entstand als Wissen über Präventionsmaßnahmen und Impfungen zur Verfügung standen (Clouston & Link, 2021).

Neue Erkenntnisse und Innovationen ermöglichen es privilegierten Gruppen erst durch den Einsatz ihrer Ressourcen, ihre Gesundheit zu verbessern (Clouston & Link, 2021). Diese flexiblen Ressourcen werden von statushöheren Personen in sozialen Interaktionen strategisch eingesetzt, aber oft profitieren sie auch ohne aktives Handeln, z. B. weil sie aufgrund ihres Habitus in Institutionen wie dem Gesundheits- oder Bildungssystem bevorzugt werden (Clouston & Link, 2021). Die Folge ist, dass Personen mit einem höheren sozioökonomischen Status im Durchschnitt von fast allen Krankheiten weniger betroffen sind.

Die Fundamental-Cause-Theorie kann damit als eine spezifische Konflikttheorie betrachtet werden, denn sie versteht Gesundheit als das Ergebnis einer Position im sozialen Beziehungsgeflecht und fokussiert anders als viele andere Ungleichheitstheorien die Rolle privilegierter und nicht benachteiligter Gruppen für gesundheitliche Ungleichheit.

Theorien für Prävention und Gesundheitsförderung

Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit leistet auch einen wesentlichen Beitrag für Prävention und Gesundheitsförderung.

  • Soziologische Theorien ermöglichen es zu erklären, warum Gesundheit und Krankheit von sozialen Determinanten bestimmt sind. Sie tragen damit wesentlich zur Legitimation der Notwendigkeit und Bedeutsamkeit von Prävention und Gesundheitsförderung gegenüber medizinischer Versorgung bei.
  • Soziologische Theorien wie die Stresstheorie haben neue Handlungsfelder der Gesundheitsförderung mitbegründet; Feminismus, Intersektionalität und Lebenslaufperspektive liefern zentrale Implikationen für die Ausrichtung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung.
  • Soziologische Perspektiven auf Prävention und Gesundheitsförderung regen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Public Health und der Praxis der Gesundheitsförderung an. Kritische Perspektiven betonen, dass die Förderung von Gesundheit kein rein technisches Problem ist, sondern wesentlich von gesellschaftlichen Strukturen, Machtverhältnissen und Konfliktlinien geprägt ist (Schmidt-Semisch, 2021). Auf Perspektiven wie die Fundamental-Cause-Theorie oder konflikttheoretische Ansätze wird häufig verwiesen, um auf die Notwendigkeit umfassenderer Konzepte wie Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik/Healthy Public Policy hinzuweisen oder um gesamtgesellschaftliche Veränderungen zu fordern.
  • Andererseits hinterfragen soziologische Arbeiten aber auch grundsätzlich die wachsende Bedeutung von Gesundheit in unserer Gesellschaft und werfen einen kritischen Blick auf Public Health. Sie thematisieren beispielsweise, dass verhaltenspräventive Maßnahmen zur Stigmatisierung benachteiligter Bevölkerungsgruppen führen können, Settinginterventionen strukturelle Probleme in Settings depolitisieren oder durch eine Priorisierung von Gesundheit andere gesellschaftlichen Werte und Ziele aus dem Blick geraten können (Schmidt-Semisch, 2021).

Egal ob legitimierend, handlungsleitend oder kritisch: die Bezüge der Soziologie zur Prävention und Gesundheitsförderung sind vielfältig. Deshalb wäre ein noch intensiverer Diskurs zwischen Medizin- und Gesundheitssoziologie einerseits und Präventions- und Gesundheitsförderungspraxis andererseits für beide Seiten ein Gewinn.

Literatur:

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Internetadressen:

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie e. V.: www.dgms.de

European Society of Health and Medical Sociology (ESHMS): www.eshms.eu

Research Network 16 − Sociology of Health and Illness of the European Sociological Association (ESA): www.europeansociology.org/research-networks/rn16-sociology-health-and-illness

Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS): www.soziologie.de/sektionen/medizin-und-gesundheitssoziologie/aktuell

Verweise:

Biomedizinische Perspektive, Determinanten der Gesundheit, Gesundheitsberichterstattung, Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik / Healthy Public Policy, Gesundheitswissenschaften / Public Health, Lebensweisen/Lebensstile, Risikofaktoren und Risikofaktorenmodell, Soziales Kapital