Prävention und Krankheitsprävention
Zitierhinweis: Franzkowiak, P. (2025). Prävention und Krankheitsprävention. In: Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
Zusammenfassung
Krankheitsprävention bezeichnet alle Maßnahmen, die auf Vermeidung, Verringerung/Abschwächung oder zeitliche Verschiebung von (Gesundheits-)Störungen abzielen. Voraussetzung ist die gesicherte Kenntnis über pathogene Mechanismen der Entstehung von Risikofaktoren, von Vorläufern und Verstärkern epidemiologisch bedeutsamer Störungen/Krankheiten. Zwei komplementäre Systematiken liegen vor: Das Strukturmodell (primär-sekundär-tertiär) und das Spezifitätsmodell (universell-selektiv-indiziert). Ziele, strategische Ansatzpunkte, konzeptionelle Zugänge und exemplarische Methoden der Verhaltens- und Verhältnisprävention werden vorgestellt. Sozialwissenschaftliche Reflexion und Kritik, Überlegungen zum Verhältnis zur Gesundheitsförderung und zu zukünftigen Herausforderungen schließen den Leitbegriff ab.
Schlagworte
Prävention, Krankheitsprävention, Verhaltens- und Verhältnisprävention, Strukturmodell, Spezifitätsmodell, Methodische Ansatzpunkte, Vorrangige Krankheitsgruppen, Präventionsdilemma, Sozialwissenschaftliche Präventionskritik
Prävention umfasst alle Maßnahmen, die zur Verhinderung oder Verringerung des Auftretens, der Ausbreitung und der negativen Auswirkungen bzw. Folgekosten von möglichen unerwünschten Ereignissen, Zuständen oder Entwicklungen beitragen. Prävention wirkt durch frühzeitige und systematische Verhinderung, Verminderung oder Verzögerung von vorhersagbaren und vorab definierten Ursachen, Risiken und Rahmenbedingungen. Ihre Maßnahmen können individuell, gruppenbezogen und in Populationen umgesetzt werden. Sie beinhalten politische, gesetzgeberische, technische, soziale, medizinische, psychologische und pädagogische Eingriffe meist professionell autorisierter Akteurinnen und Akteure. Hinzu treten Lebensweltbeeinflussung und Umweltkontrolle, Lobbyarbeit und massenmediale Kampagnen.
Prävention und Krankheitsprävention
Im gesundheits- und krankheitsbezogenen Sprachgebrauch werden die Begriffe Prävention und Krankheitsprävention oftmals synonym verwendet. Wissenschaftlich präzise, historisch und strukturell eindeutiger ist der Begriff der Krankheitsprävention (KP). Sein Ansatzpunkt und Bezug ist eine medizinisch oder psychiatrisch definierte, diagnostizierbare Gesundheitsstörung und deren bekannte Vorläufer. KP zielt in erster Linie auf Risikopersonen und -gruppen mit erwartbaren, erkennbaren oder bereits im Ansatz eingetretenen Anzeichen von Gesundheitsstörungen und Krankheiten. Maßnahmen sollen einen konkreten Gesundheitsgewinn erzielen und jene individuelle und/oder kollektive Krankheitslast vermeiden, aufschieben oder verringern, die ohne Intervention zu erwarten wäre.
Eine Besonderheit bildet die arbeitsweltbezogene Prävention im Kontext des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Sie hat den gesetzlichen Auftrag und das Ziel, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren nachhaltig zu verhindern sowie für wirksame Erste Hilfe zu sorgen. Ihre Maßnahmen zielen auf Verbesserung von Arbeitsbedingungen, auf Analysen und Reduktion von Gesundheitsgefährdungen mit technischen, organisatorischen und arbeitsmedizinischen Mitteln (DGUV, 2025). Dabei kommen Interventionen in Sicherheitstechnik, Arbeitsmedizin, Arbeitshygiene, Arbeitswissenschaft (Ergonomie) und Arbeitsorganisation zum Tragen.
Schnelle Verbreitung und zunehmende Bedeutung erfährt die ePrävention oder digitale Prävention (DP). Sie umfasst Nutzung und systematischen Einsatz digitaler Technologien in der Krankheitsprävention sowie die Untersuchung ihrer Effekte und Auswirkungen. Die Entwicklung ist derzeit in hohem Maß geprägt durch die Dynamik generativer Künstlicher Intelligenz (KI) in allen Präventionsfeldern. Entsprechende Internet-Interventionen (Telepräventionsprogramme, Chatbots), mobile Anwendungen (Apps) sowie hybride Trainingskonzepte sind nach der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Spitzenverband, 2024) vorrangig in der individuellen verhaltensbezogenen Primärprävention angesiedelt. DP und KI haben auch Potenziale für setting- und lebensweltenbasierte Prävention und Gesundheitsförderung – eingebettet in die gesamtgesellschaftliche digitale Transformation (Dockweiler et al., 2023; Maaß et al., 2025). Letztere Potenziale gilt es noch weiterzuentwickeln (Digitalisierung in Prävention und Gesundheitsförderung).
Zielsetzungen und konzeptionelle Zugänge
Spezifische und allgemeine Krankheitspräventionsziele werden nach Rosenbrock & Michel (2007, S. 3 ff.) in vier Kernpunkten zusammengefasst:
- Vermeidung, Abschwächung oder zeitliche Verschiebung (Kompression) von Mortalität und Morbidität und den sich daraus ergebenden Einbußen an Lebensqualität und Einschränkungen der Teilhabe am sozialen Leben.
- Vermeidung, Verringerung und/oder zeitliche Verschiebung von direkten Krankheitskosten der Kuration, Rehabilitation und Sozialversicherung.
- Vermeidung, Verringerung und/oder zeitliche Verschiebung von indirekten Krankheitskosten durch reduzierte Produktivität, eingeschränktes bürgerschaftliches Engagement oder gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsverluste; Erhalt des wirtschaftlichen und sozialen Produktionspotenzials.
- Investition in Gesundheit als einen demografisch zunehmend wichtigen Aspekt des Humankapitals.
Bei den konzeptionellen Zugängen gibt es drei Formen:
- Auf spezifische Krankheiten, Krankheitsspektren und deren bekannte Ursachen bezogene Prävention (ätiologisch und nosologisch orientierte Prävention).
- Ausgleich von Gefährdungs- und Erkrankungsunterschieden zwischen verschiedenen sozialen oder gesundheitlichen (Risiko-)Gruppen (Konzept der relativen Risiken).
- Bekämpfung von Epidemien/Pandemien bzw. Unterstützung von abnehmenden Gefährdungen (Konzept der Epidemien und Regressionen).
Die präventiven Strategien sind durch drei sich teilweise überschneidende Zugänge gekennzeichnet:
- Ausschaltung oder Minimierung von Gesundheitsrisiken.
- Verringerung der Zahl von Betroffenen, d. h. der von einem Risiko bedrohten oder gegenüber einer Krankheit exponierten Menschen.
- Schulung, Beratung, Gesundheitserziehung und Kompetenzförderung aller von Gesundheitsrisiken Betroffenen.
Verhaltens- und Verhältnisprävention
Präventionsstrategien unterscheiden sich hinsichtlich des Ansatzpunktes, den sie wählen, um Veränderungen bei Einzelnen und Gruppen, in Settings und in einer Gesamtbevölkerung zu erreichen. Weithin geläufig ist eine Differenzierung in Verhaltensprävention und Verhältnisprävention. Rosenbrock & Michel haben diese nur scheinbare Dichotomie schon 2007 aufgeschlüsselt und beschreiben vier ineinander übergehende strategische Ansatzpunkte (siehe auch: Gerlinger & Rosenbrock, 2024, S. 117 ff.):
- Medizinische Prävention durch den Einsatz medizinischer Mittel der Diagnostik und (Früh-)Behandlung, z. B. Schutzimpfungen.
- Reine Verhaltensprävention zur Änderung von (schädlichen) Verhaltensmustern bei Einzelpersonen und Gruppen ohne expliziten Kontextbezug, z. B. Gesundheitskurse und Trainingsangebote durch Krankenkassen.
- Kontextorientierte (verhältnisgestützte) Verhaltensprävention, entweder als verhaltenspräventive Interventionen für genau definierte Zielgruppen mit einem expliziten Kontextbezug sowie die Nutzung eines Settings als Zugangsweg für solche Zielgruppen (Gesundheitsförderung im Setting) oder als Integration von Verhältnis- und Verhaltensprävention in Mehrebenen-Kampagnen und in der Gestaltung von lebensstilprägenden Lebenswelten (Gesundheitsförderndes Setting).
- Reine Verhältnisprävention ohne die Notwendigkeit persönlicher Einstellungsänderung und Verhaltensentscheidungen, als Gesamtheit struktureller und politischer Eingriffe zur Veränderung der gesundheitsrelevanten ökologischen, sozialen, kulturellen und technisch-materiellen Umwelten und Settings, der Beeinflussung von sozialen Regeln, Gesetzen und sozialen Systemen und der Intervention in Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung, etwa durch Normierung von Verbraucherschutz oder Grenzwertsetzungen für Schadstoff- und Umweltbelastungen.
Fließende Übergänge zur Gesundheitsförderung bestehen bei der kontextorientierten Verhaltensprävention sowie der Verhältnisprävention. Die Spitzenverbände der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung verweisen im „Leitfaden Prävention“ (GKV-Spitzenverband, 2024) auf Gesundheitsförderung und Prävention in der Kommune, in Kindertageseinrichtungen sowie in Schulen und Hochschulen. Hinzu tritt die Betriebliche Gesundheitsförderung.
Epidemiologisch vorrangige Krankheitsgruppen und Handlungsfelder in der individuellen verhaltensbezogenen Krankheitsprävention
Die GKV-Spitzenverbände identifizieren sieben Krankheitsgruppen als epidemiologisch besonders bedeutsam:
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen (insbesondere Herzinfarkte, Schlaganfälle und Krankheiten des zerebrovaskulären Systems)
- Diabetes mellitus, insbesondere Typ-2-Diabetes
- Adipositas
- Bösartige Neubildungen
- Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes
- Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane
- Psychische/psychosomatische Krankheiten (insbesondere Depressionen und Angststörungen)
Bei zahlreichen dieser Erkrankungen wirken gemeinsame Risikofaktoren: Bewegungsmangel, Fehlernährung, Übergewicht und Adipositas, mangelnde Stressbewältigungs- und Entspannungskompetenzen oder Suchtmittelkonsum. Die Kernhandlungsfelder der individuellen verhaltensbezogenen Primärprävention zielen schwerpunktmäßig auf diese Risikofaktoren.
Strukturmodell: Primäre, sekundäre und tertiäre Krankheitsprävention
Krankheitspräventive Maßnahmen sollen nicht nur das (Neu-)Auftreten von Krankheiten, von Behinderungen oder eines vorzeitigen Todes senken, sondern auch zu einem möglichst langen Erhalt von Selbstständigkeit im fortschreitenden Alter beitragen. Daher hat die Krankheitsprävention gestufte Ziele. Interventionshandlungen werden je nach dem Zeitpunkt des Eingriffs in einer Abfolge von Entwicklungsstufen der Störung unterschieden in primäre, sekundäre und tertiäre Krankheitsprävention (Walter et al., 2022; Hurrelmann et al., 2024; Leppin & Blunck, 2024). Dies wird auch als Triadisches Strukturmodell bezeichnet und in den Tabellen 1a−1c beispielhaft erläutert.
Primäre Krankheitsprävention | |
Ziele | Einzelperson: Krankheitsverhütung, Risikosenkung, Risikoeliminierung. Bevölkerung: Senkung der Inzidenzraten (Neuerkrankungsraten) von Krankheiten, Minderung der Wahrscheinlichkeit des Krankheitseintritts in einer Population. |
Zeitlicher Ansatz und Umsetzung | Adressatinnen und Adressaten sind Gesunde bzw. Menschen ohne manifeste Symptomatik oder klinische (Vor-)Zeichen. Verhütung von Krankheit durch:
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Tab. 1a: Primäre Krankheitsprävention: Ziele, Ansatz, Umsetzung (eigene Darstellung)
Sekundäre Krankheitsprävention | |
Ziele | Einzelperson: Krankheitsfrüherkennung und Krankheitseindämmung (Entdeckung biomedizinisch eindeutiger, u. U. klinisch noch symptomloser Frühsymptome und Frühstadien einer Erkrankung; deren erfolgreiche Frühbehandlung bzw. Eindämmung der Progredienz/Verkürzung der Dauer). Bevölkerung: Senkung der Inzidenz von manifesten oder fortgeschrittenen Erkrankungen. |
Zeitlicher Ansatz und Umsetzung | Krankheiten möglichst frühzeitig erkennen, bevor Beschwerden oder Krankheitssymptome auftreten; sie frühzeitig vor Eintritt eines manifesten Schadens bzw. einer Chronifizierung, behandeln (z. B. durch allgemeinmedizinische Gesundheits-Checks, krankheitsspezifische Früherkennungsuntersuchungen, Filteruntersuchungen [engl.: Screenings] in ausgewählten Bevölkerungsgruppen). Das Fortschreiten eines Krankheitsfrühstadiums soll aufgehalten werden durch:
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Tab. 1b: Sekundäre Krankheitsprävention: Ziele, Ansatz, Umsetzung (eigene Darstellung)
Tertiäre Krankheitsprävention | |
Ziele | Einzelperson: Verhütung der Verschlimmerung einer bereits manifest gewordenen Krankheit, Vermeidung von bleibenden Funktionsverlusten und eingeschränkten Aktivitäten bzw. verminderter Partizipation. Bevölkerung: Alle Anstrengungen, die die Leistungsfähigkeit von Patientinnen und Patienten und Betroffenen so weit wie möglich wiederherstellen bzw. erhalten; Senkung der Inzidenz bleibender Beeinträchtigungen und Behinderungen. |
Zeitlicher Ansatz und Umsetzung | Tertiäre Krankheitsprävention richtet sich an Menschen, bei denen bereits eine Krankheit oder ein Leiden manifest sind und behandelt werden. Hauptziele sind:
Notwendige Heil- und Folgebehandlungen werden so früh wie möglich eingeleitet, wobei sich tertiäre Prävention und Rehabilitation teilweise überschneiden. |
Tab. 1c: Tertiäre Krankheitsprävention: Ziele, Ansatz, Umsetzung (eigene Darstellung)
Spezifitätsmodell: Universelle, spezifische und indizierte Krankheitsprävention
Ursprünglich vor allem in der US-amerikanischen Public Health und Mental Health, mittlerweile auch in der internationalen Suchtprävention und der arbeitsplatzbezogenen Prävention, besteht seit Jahrzehnten eine andere Schwerpunktsetzung. Hier wird eine Kategorisierung präventiver Maßnahmen nach Spezifität und Maß der Gefährdung bevorzugt. Die Klassifikation folgt einem Risiko-Nutzen-Modell mit folgenden Kerngrößen: individuelles Erkrankungsrisiko (d. h. gegebene Ausprägung von Risikofaktoren bei den jeweiligen Zielgruppen), Risiken einer Intervention, Aufwand und Kosten.
Im Spezifitätsmodell der Krankheitsprävention werden drei Präventionsformen und -zugänge unterschieden: die universelle, die selektive und die indizierte Krankheitsprävention (siehe Tabellen 2a−c). Die drei Formen sind in ein Gesamtsystem eingeordnet, das nicht nur Vorsorge, Früherkennung und Behandlung, sondern auch Langzeitbetreuung und Rehabilitation umfasst.
Universelle Krankheitsprävention | |
Zielgruppen | Gesamtbevölkerung bzw. große Teilpopulationen. |
Nutzen, Aufwand, Umsetzung | Maßnahmen, die prinzipiell für jede und jeden nützlich oder notwendig sein sollen und in bestimmten Fällen auch ohne Professionelle durchgeführt werden können, zum Beispiel:
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Tab. 2a: Universelle Krankheitsprävention: Zielgruppen, Nutzen, Aufwand, Umsetzung (eigene Darstellung)
Selektive Krankheitsprävention | |
Zielgruppen | Umrissene Zielgruppen mit einem epidemiologisch ausgewiesenen, eventuell auch überdurchschnittlichen Risiko (Risikoträgerinnen und -träger). |
Nutzen, Aufwand, Umsetzung | Gruppenbezogene Maßnahmen zur Um- und Durchsetzung empfohlener Vorsorge- oder Früherkennungsmaßnahmen, zum Beispiel:
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Tab. 2b: Selektive Krankheitsprävention: Zielgruppen, Nutzen, Aufwand, Umsetzung (eigene Darstellung)
Indizierte Krankheitsprävention | |
Zielgruppen | Umrissene Zielgruppen und Einzelpersonen mit klinisch gesicherten Risikofaktoren bzw. manifesten Störungen oder Devianzen. |
Nutzen, Aufwand, Umsetzung | Interventionen, die versuchen, auf Hochrisikopersonen vorsorgend, frühbehandelnd, schadensminimierend und rückfallpräventiv einzuwirken, zum Beispiel über:
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Tab. 2c: Indizierte Krankheitsprävention: Zielgruppen, Nutzen, Aufwand, Umsetzung (eigene Darstellung)
Strukturmodell und Spezifitätsmodell stehen nicht in einem logischen Widerspruch, sie sind vielmehr komplementär. Die Zielgruppenstrategien des Spezifitätsmodells ergänzen die dreistufige krankheitsbezogene Perspektive pragmatisch: im Sinne eines optimierenden Rahmens zur Ausführung. Strategien der Spezifität klären die Bedingungen der Ansprache, Zugangswege und Umsetzung von Präventionszielen. Die Vorsorgeziele werden weiterhin krankheitsbezogen abgeleitet. Ein Problem, das insbesondere im Spezifitätsmodell zum Tragen kommt, ist das Präventionsparadox.
Methoden und Evidenzbasierung
Leppin & Blunck (2024) ordnen die krankheitspräventive Methodik für beide Triadische Modelle in einer mehrstufigen Systematik (Tab. 3). Dabei besteht ein ausdrücklicher Bezug zum mehrdimensionalen Kontinuum zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention.
Methodik | Verfahren/Inhalte |
Individuell psycho-edukativer Ansatz | Personen-, gruppen- und bevölkerungsbezogene Praxisansätze und Kampagnen der Information, Aufklärung, Warnung und Abschreckung, der personalen Beratung, des Verhaltens- und Selbstmanagement-Trainings, der Kompetenzförderung und Stressbewältigung − dominierend in der Verhaltensprävention. |
Sozio-edukative Aktivitäten | Initiierung von präventiven Prozessen in Gruppen oder Organisationen mit fließenden Grenzen zu sozialpolitischen Aktivierungs- und Mobilisierungsprozessen im kommunalen und regionalen Rahmen − verortet v. a. in der Verhältnisprävention sowie von zentraler Bedeutung für Gesundheitsförderung. |
Normativ-regulatorischer Ansatz | Gesetze, Vorschriften, Gebote und Verbote mitsamt Androhung von Sanktionen, z. B. als Rauchverbote, Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebote sowie Masken-, Test- und Impfverpflichtungen in Pandemien, auch settingbezogene bzw. allgemeine Impfpflichten, Anschnall- und Helmpflicht sowie Promillegrenzen im Straßenverkehr, des Weiteren Schadstoffverordnungen, Vorschriften der Lebensmittelüberwachung, Gesetzgebung zum Gesundheits-, Arbeits- und Jugendschutz − zentral für Verhältnisprävention. |
Ökonomische Anreiz- und Sanktionssysteme | Preisregulierungen, z. B. Verteuerung von gesundheitsschädlichen Produkten wie Tabak und Alkohol durch Steuererhöhungen mit dem Ziel einer Veränderung des Nachfrage- und Konsumverhaltens, Beitragsermäßigungen für Versicherte bei Inanspruchnahme präventiver Angebote oder bei Aufgabe des Rauchens − zentral für Verhältnisprävention. |
Materiell-strukturelle Umweltveränderungen, Schaffung von Angebots- und Verfügbarkeitsstrukturen | Einführung gesunden Essens in Schul- und Betriebskantinen, Angebote zur Entspannung, Bewegung, Yoga in Gemeinden und lokalen Einrichtungen, Schaffung von Bewegungsparcours, Fahrradwegen – je nach Perspektive und/oder Adressatinnen und Adressaten spezifische Krankheitsprävention, ressourcenerweiternde Gesundheitsförderung oder Verhältnisprävention im Setting. |
Tab. 3: Systematik der krankheitspräventiven Methodik (eigene Darstellung in Anlehnung an Leppin & Blunck, 2024, S. 51 ff.)
Es gibt eine stetig wachsende Evidenz für die Wirksamkeit und Kosteneffektivität vieler präventiver Interventionen (Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis sowie Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 2: Umsetzung).
Neuer Oberbegriff „Primärprävention“?
Rosenbrock und Michel plädierten schon in den 2000-er Jahren für eine veränderte Schwerpunktsetzung in der Interventionsbegründung. Sie hielten die Struktur- und Spezifitätskonzepte weder für hinreichend widerspruchsfrei noch für ausreichend praxistauglich. Ein sinnvollerer Oberbegriff für Praxis und Politik sei Primärprävention. Deren Zentrum und Fokus ist Risikosenkung, die sich in der Kombination von Belastungssenkung und Ressourcenstärkung entfaltet (vgl. Tab. 4). Für betriebliche Prävention und Gesundheitsförderung existiert seit langem ein vergleichbares Begriffspaar: „Reduzierung und Vermeidung von Gesundheitsrisiken“ in Verbindung mit „Erschließung von Gesundheitspotenzialen“ (Badura & Knesebeck, 2020).

Diese Perspektive wendet sich gegen den weithin dominierenden nosologischen Bezug, d. h. gegen eine Verengung von Prävention auf definierte Krankheiten. Hingegen lassen sich primärpräventive Aktivitäten und Strategien nur in Ausnahmefällen eindeutig bestimmten Krankheiten zuordnen. Für Primärprävention ist die Logik der Interventionsbereiche leitend, d. h. der jeweilige Kontextbezug. Entscheidend ist, welche Einwirkungen auf Arbeit, Wohnen, Entspannung und Erholung, Ernährung und Bewegung etc. entstehen. Eine hohe Priorität wird der Partizipation aller Akteurinnen und Akteure sowie Betroffenen zugewiesen (Gerlinger & Rosenbrock, 2024, S. 116 ff.).
Sozial- und gesundheitswissenschaftliche Reflexion und Kritik
Es kann keine universellen oder zeitlosen Definitionen von Prävention und Krankheitsprävention geben. Jede Risikobewertung und jede Risikokommunikation legen unterschiedliche Grundüberlegungen (sowie Machtverhältnisse bzw. -konflikte) zu Gesundheit und Krankheit offen. Sie dokumentieren historisch bedingte, gesellschaftlich und professionell veränderbare Deutungs- und Wertungsmuster. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gilt für Deutschland und Mitteleuropa, dass Prävention ideologisch, professionell und organisatorisch mit der Vorbeugung von Gewalt, Kriminalität und Rechtsverletzungen oder mit Risikoabwehr im gesundheitlichen Bereich von Gesellschaft und bei gesellschaftlichen Gruppen verbunden wird.
Sozial-, kultur- und gesundheitswissenschaftliche Kritikerinnen und Kritiker problematisierten Prävention auch als potenzielles und reales Instrument sozialer Kontrolle, als Herrschaftstechnik der Moderne, als Teilaspekt eines gesamten Ensembles von „Technologien der Selbst- und Fremdführung“ (Bröckling et al., 2024, S. 10). Zudem wird Prävention im engeren medizinischen Kontext als Instrument von Medikalisierung dechiffriert. Labelingeffekte, etwa durch Fremdzuschreibung von schuldhaft gewendeter Eigenverantwortung für Krankheiten, seien zwangsläufig (vgl. Schmidt, 2008; Bröckling, 2012).
Immer noch dominiert in der Krankheitsprävention der Fokus auf Verhaltensprävention und auf einzelne handelnde Subjekte. Die Verbindung mit einer eindeutig strukturorientierten Perspektive − als mindestens gleichgewichtige Referenzfolie – bleibt deutlich unterentwickelt. Das begünstigt einen individualisierungstheoretischen Reduktionismus sowohl in den Erklärungsmodellen als auch in der Interventionspraxis (Bauer & Bittlingmayr, 2020; Gerlinger & Rosenbrock, 2024).
Problemstellungen und das „Präventionsdilemma“
In der Krankheitsprävention gestaltet sich die Bildung trennscharfer Kategorien und einheitlicher Terminologien als schwierig. Die Problematik beruht zum einen auf der Komplexität von Krankheitsätiologien und präventiven Wirkmechanismen. Andererseits wirkt sich die Vielfalt von Interventionen, Organisationen, Settings und Systemen im medizinischen Handlungsfeld aus. Die Grenzen zwischen primärer und sekundärer Krankheitsprävention verschwimmen zunehmend durch feinere Diagnosemethoden, durch die Einführung der präventiven bzw. prädiktiven Gendiagnostik sowie hinsichtlich der Unterscheidung von Erkrankung und Risikofaktor (z. B. bei Hypertonie und dem Fettstoffwechsel). Walter et al. sprechen von systematischer Aufweichung durch vermehrte „Umdefinition“ (2022, S. 340) mit der Folge einer aktiven Ausweitung des Krankheitsbegriffs.
Rasche biotechnologische Fortschritte rücken die prädiktive Medizin mit der neuartigen Möglichkeit genetischer Diagnostik und Selektion in den Vordergrund. Verbreitete Stichworte und Konzepte sind „prädiktive Medizin“, „personalisierte Medizin“, „precision medicine“ oder „high definition medicine“ (Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin). Analog ist im Kontext der digitalen oder ePrävention zunehmend von personalisierter Prävention oder Präzisions-Prävention die Rede.
Das sogenannte Präventionsdilemma bzw. „Soziale Dilemma der Gesundheitsförderung“ (Bauer & Bittlingmayer, 2020) wurde in den 2000-er Jahren in Deutschland aus der Bildungsforschung in die Gesundheitswissenschaften und Präventions(wirkungs)forschung übertragen. Im Kern beschreibt es das Ungleichheitsparadox der selektiven Inanspruchnahme (Präventionsparadox). Adressatinnen und Adressaten mit höherem Vorsorge- oder Frühinterventionsbedarf haben eine herabgesetzte Akzeptanz und Nachfrage von Präventionsangeboten. Zudem verfügen sie vielfach über eine niedrigere Gesundheitskompetenz (Health Literacy/Gesundheitskompetenz). Im Gegensatz dazu fragen sozial und bildungsbezogen bessergestellte Adressatinnen und Adressaten mit höheren Gesundheitschancen und -kompetenzen (und eher niedrigeren Bedarfen) die Präventionsangebote deutlich stärker nach und nehmen sie eher in Anspruch. Das Dilemma zeigt sich insbesondere bei Maßnahmen der Verhaltensprävention.
Verhältnis zur Gesundheitsförderung
Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention sind komplementäre, sich ergänzende Formen der Intervention. Zudem sind sie mit dem Inkrafttreten des > Präventionsgesetzes in Deutschland seit 2015 sozialrechtlich und institutionell verankert sowie (wenn auch nicht immer ausreichend) grundfinanziert.
Beides sind Strategien des gezielten Eingreifens von in der Regel öffentlich oder professionell autorisierten Akteurinnen und Akteuren, um Morbiditäts- und Mortalitätsentwicklungen, die sich epidemiologisch bei Einzelnen oder Bevölkerungsgruppen abzeichnen, gezielt und überprüfbar zu beeinflussen. Beide Interventionsformen wollen einen individuellen und einen kollektiven Gesundheitsgewinn erzielen. Sie sind zwar im Ansatz und in den Strategien unterscheidbar, ergänzen sich jedoch auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel: der Verbesserung von Gesundheit und gesundheitlicher Chancengleichheit in einer Bevölkerung (Hurrelmann et al., 2024).
Die Krankheitsprävention begründet ihr Eingreifen vorwiegend pathogenetisch mit der Dynamik der Ausgangsbedingungen und Risiken von spezifischen Krankheiten bzw. Krankheitssyndromen. Die Gesundheitsförderung argumentiert salutogenetisch mit der Dynamik der Entstehung und Erhaltung von Gesundheitsstadien und einem grundlegenden Perspektivenwechsel auf Determinanten für Gesundheit und Wohlbefinden, auf Partizipation, Empowerment und Capacity building/Strukturbildung (Altgeld & Kolip, 2024). Hurrelmann et al. bewerten eine scharfe Abgrenzung beider Interventionsformen als „nicht hilfreich“, sogar als „destruktiv“ (2024, S. 28).
Herausforderungen für die Zukunft
Zeeb & Busse (2024) diskutieren zukünftige Herausforderungen für Prävention und Gesundheitsförderung. Angesichts der wachsenden Komplexität gesundheitlicher, sozialer, wirtschaftlicher und technischer Zusammenhänge bestehe die Notwendigkeit struktureller, vernetzter und übergreifender Antworten. Eine verstärkte Orientierung an Systemansätzen sei unumgänglich. Dabei sind Bürgerrechte und individuelle Freiheiten zu wahren und möglichen Tendenzen zu einer „Gesundheitsdiktatur“ entgegenzuwirken. Gesellschaftliche und gesundheitliche Diversität müssen als Herausforderung angenommen, Stigmatisierungen und soziale Ungleichheit bzw. Ungleichbehandlungen verhindert werden. D. h.: Prävention und Gesundheitsförderung sollen „für alle und mit allen“ (ebd., S. 565) ausgestaltet und umgesetzt werden.
Diese Forderungen korrespondieren mit aktuellen Analysen und Prioritätensetzungen von Pfaff et al. (2024) und Herberz & Pfaff (2024) zur betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung. Die betriebliche Prävention befinde sich trotz aller guten Bemühungen in einer Evidenz- und Wirkungskrise. Für einen „Spurwechsel Prävention“ seien dringlich neue Ausrichtungen erforderlich: Evidenzbasierung, Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit, Populationsgesundheit. Dazu sei ein Paradigmenwechsel nötig „hin zu einem systemischen Präventionsansatz, der reichweitenstarke, belegt wirksame und nachhaltige Individual- und Kollektivmaßnahmen integriert“ (Pfaff et al., 2024, S. 15).
Literatur:
Altgeld, T. & Kolip, P. (2024). Konzepte und Strategien der Gesundheitsförderung. In K. Hurrelmann et al. (Hrsg.), Referenzwerk Prävention und Gesundheitsförderung (6., überarbeitete und erweiterte Auflage, S. 57−72). Hogrefe.
Badura, B. & v. d. Knesebeck, O. (2020). Soziologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften. In O. Razum & P. Kolip (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften (7. Auflage, S. 170−191). Juventa.
Bauer, U. & Bittlingmayer, U. H. (2020). Zielgruppenspezifische Gesundheitsförderung – Das Beispiel ungleicher Lebenslagen. In O. Razum & P. Kolip (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften (7. Auflage, S. 710−735). Juventa.
Bröckling, U. (2012). Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution. In C. Daase et al. (Hrsg.), Sicherheitskultur − Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr (S. 93−108). Campus.
Bröckling, U. et al. (2024). Einleitung. In Bröckling, U. et al. (Hrsg.), Glossar der Gegenwart 2.0 (S. 9−21). Suhrkamp.
DGUV (2025). Prävention. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung Spitzenverband. Zugriff am 02.07.2025 unter www.dguv.de/de/praevention/index.jsp
Dockweiler, C. et al. (2023) (Hrsg.). Settingbezogene Gesundheitsförderung und Prävention in der digitalen Transformation − transdisziplinäre Perspektiven. Nomos.
Gerlinger, T. & Rosenbrock, R. (2024). Gesundheitspolitik − Eine systematische Einführung (4., überarbeitete und erweiterte Auflage). Hogrefe.
GKV-Spitzenverband (2024). Leitfaden Prävention. Handlungsfelder und Kriterien nach § 20 Abs. 2 SGB V zur Umsetzung der §§ 20, 20a und 20b SGB V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom 19. Dezember 2024. Berlin. Zugriff am 02.07.2025 unter www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/praevention_selbsthilfe_beratung/praevention_und_bgf/leitfaden_praevention/leitfaden_praevention.jsp
Herberz, M. & Pfaff, H. (2024) Spurwechsel Prävention – das Triple-Aim-Konzept als Orientierungsrahmen. In Klemm, A.-K. et al. (Hrsg.), BKK-Gesundheitsreport 2024 – Spurwechsel Prävention (S. 22−34). MWV.
Hurrelmann, K. et al. (2024). Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. In K. Hurrelmann et al. (Hrsg.), Referenzwerk Prävention und Gesundheitsförderung (6., überarbeitete und erweiterte Auflage, S. 23−34). Hogrefe.
Leppin, A. & Blunck, L. (2024). Konzepte und Strategien der Prävention. In K. Hurrelmann et al. (Hrsg.), Referenzwerk Prävention und Gesundheitsförderung (6., überarbeitete und erweiterte Auflage, S. 47−54). Hogrefe.
Maaß, L. et al. (2025). Digital Public Health in Deutschland: Status quo, Herausforderungen und Zukunftsperspektiven. Bundesgesundheitsblatt − Gesundheitsforschung − Gesundheitsschutz68(2), 176–184. https://doi.org/10.1007/s00103-024-03989-0
Pfaff, H. et al. (2024). Wege aus der BGF-Wirkungskrise. GGW,24(2), 15–22.
Rosenbrock, R. & Michel, C. (2007). Primäre Prävention − Bausteine für eine systematische Gesundheitssicherung. MWV.
Schmidt, B. (2008). Eigenverantwortung haben immer die anderen − Der Verantwortungsdiskurs im Gesundheitswesen. Huber.
Walter, U. et al. (2022). Prävention. In F. W. Schwartz et al. (Hrsg.), Public Health − Gesundheit und Gesundheitswesen (S. 196−223). Urban & Fischer.
Zeeb, H. & Busse, H. (2024). Prävention und Gesundheitsförderung − Aussichten für die Zukunft. In K. Hurrelmann et al. (Hrsg.). Referenzwerk Prävention und Gesundheitsförderung (6., überarbeitete und erweiterte Auflage, S. 559−568). Huber.
Internetadressen:
Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit: www.bioeg.de
Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.: www.bvpraevention.de
Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V.: www.dgsmp.de
GKV-Spitzenverband: www.gkv-spitzenverbnd.de
Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit: www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Verweise:
Betriebliche Gesundheitsförderung, Digitalisierung in Prävention und Gesundheitsförderung, Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 1: Verständnis, Evidenzbasierte Prävention und Gesundheitsförderung 2: Umsetzung, Frühe Hilfen, Gesundheitskompetenz / Health Literacy, Prädiktive Medizin und individualisierte Medizin, Präventionsparadox